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Nicht nur meine Traurigkeit nimmt überhand, sondern auch die Depression im ewigen Netz, das uns nun ganz umfängt

Die Quarantänen und die Kontaktsperren haben uns eine ‚neue‘ Depression beschert. Ganz am Anfang war die Unterbrechung der eingefahrenen und fast schon unmerklich gewordenen Traurigkeiten sogar für einen Moment belebend, viele Menschen stürzten sich in die neue Situation und beschäftigten sich mit den unerwartet hereingebrochenen Veränderungen. Diese ‚attraktive‘ Seite hatte jedoch keinen langen Bestand und wurde schon bald abgelöst von einer neuen depressiven Welle, die sich nun – mit der trüben Aussicht auf eine immer längere Zeit des epidemiologischen Ausnahmezustandes – immer mehr vertiefen wird. Wohin wird uns dies alles bringen, wie stark wird das Funktionieren unserer Gesellschaft danach beeinträchtigt sein und wie viele Menschen werden durch das Virus und die Folgeerscheinungen nachhaltig geschädigt (psychisch, ökonomisch oder sozial) oder gar gestorben sein?

Aber wir stellen auch fest: Unsere Traurigkeiten sind nicht alle neu. Sie lasteten schon länger, ein Jahrzehnt oder zwei, auf uns und sie hatten nichts mit Sars-Cov-2 zu tun. Woher stammen sie und sind wir schon dabei die alte und die neue Traurigkeit zu verwechseln? Werden uns vielleicht sogar einige Leute einreden wollen, dass es nur die eine gibt, nämlich die neue?

Vielleicht ist ja das Netz, dieses uns alle gerade rettende und langfristig verschlingende www, in das wir wie endgültig verbannt sind, das Problem und nicht die Lösung. Da wir nicht ausschließen können, dass es so ist, versuchen wir mit unserer Kommunikation jetzt dem www zu entkommen und äußern uns ab heute wieder radikal analog: nämlich auf dieser Litfaßsäule in der Mitte unserer Stadt Rottweil.

Sind wir nicht schon längst traurige Bewohner einer Welt gewesen, in der eine künstliche Mutation stattgefunden hat, bei der das Leben seine sinnliche Greifbarkeit verloren hat, indem sie durch eine sinnliche Virtualität ersetzt wurde? Schon vor der Kontaktsperre waren wir ziemlich weit fortgeschritten, traurige isolierte Einzelne  in der unendlichen Weite von körperlosen Zeichen zu werden. Alles wird schon ein Weile aus der altmodischen Welt der Körper und des Ausdrucks in die Simulationen und Informationen der hypermodernen Welt der digitalen Technologie transformiert. Dieser Prozess der Überführung von allem, was existiert, ins Netz wird erst aufhören, wenn wirklich alles und jedes darin verdoppelt wurde. Dann braucht es für die digitalen Zeichen keinen Referenten mehr in der Wirklichkeit draußen (wie es keine Goldreferenz für den Wert des Dollars mehr gibt), nur noch unsere Rottweiler Litfaßsäule wird uns dann an einen Referenten für das Zeichen (des Fragens)  erinnern…

Um dies alles weiter zu erforschen, eröffnen wir einen Dialog, ja möglicherweise ein Drama oder eine tragische Farce: Die Kontrahenten sind auf der einen Seite ganz viele Zeitgenossen, die sich unter der Überschrift „Trump-Netz-Hypermoderne“ versammeln würden und die alle mehr oder weniger dem ultimativen Überspitzer des digitalen Kapitalismus bis in die äußerste Absurdität zu folgen bereit sind – und in der anderen Ecke des Rings sammeln sich die Vertreter der „Hölderlin-Position“, wie wir sie ebenso provisorisch wie andeutend nennen, um ebenso bestimmt wie vergeblich eine Besinnung zu fordern: auf Natur oder Körper oder Erde oder wie immer man das bezeichnen will, was gerade in den Mühlen des Digitalen verschwindet…

Ein Dialog zwischen zwei Parteien, die nicht aufeinander hören, die einander wohl gar nicht hören können und erst recht nicht verstehen. Aber wir ahnen es, ohne dass wir diese beiden Welten in Dialog bringen, geht es nicht weiter… oder eben falsch weiter und damit nicht weiter, oder schleppend, also depressiv weiter, unterbrochen von Schüben euphorischer konsumistischer Manie, die wir wahrscheinlich dringend benötigen, um die Wirtschaft wieder zu beleben, der aber wohl eine noch schlimmere Depression folgen wird. Die dann wieder noch effektiver verdrängt werden müsste und so weiter und so weiter… bis … zu einem bitteren Ende… oder… … bis vielleicht die Hölderlin-Position mit ihren ‚Gesängen‘ doch wieder Gehör findet? Ob es dann wieder gut wird oder wie es war oder wie es besser hätte sein sollen… das weiß keiner!

 Peter Staatsmann

 

Säule 1: 2. Mai 2020

Säule 2: 12. Mai 2020

 

Säule 3: 25. Mai 2020

Säule 4: 9. Juni 2020

Säule 5: 9. September 2020