Odysseen – Hier vorüber wandernde Menschen

Fotoausstellung zur Inszenierung „Soul oder Die seltsamsten Menschen der Welt“

Zu sehen sind Portraits von Menschen, die in Rottweil leben – Zugezogene wie hier Geborene – und die vielfältige Wanderungswege hinter sich gebracht haben. Es sind Momentaufnahmen von Menschen, in deren Gesichtern sich Erinnerungen spiegeln. Die in Paris lebende Fotografin Cordula Treml arbeitet hauptsächlich als Bühnen- und Porträtfotografin in Frankreich und Deutschland, aber auch im europäischen Ausland für Zeitungen und Zeitschriften von der New York Times über die FAZ bis zu Theaterzeitschriften.

Die Porträts sind im Alten Rathaus und über die Stadt verteilt zu sehen. Die dazugehörigen Geschichten können über einen QR-Code mit einer App auf dem Smartphone abgerufen werden.

Wegen ihres großen Erfolges wird die Ausstellung bis Anfang Juli im Alten Rathaus Rottweil verlängert.

Die Ausstellung wurde von Oberbürgermeister Dr. Christian Ruf am 18.03.2023 eröffnet.

Rede zur Eröffnung der Fotoausstellung „Oysseen – Hier vorüber wandernde Menschen“ am Sa., 18.03.2022 von Peter Staatsmann

In unserer Gegenwart wird über vieles sehr schnell und leichtfertig verfügt. Alles scheint zur Verfügung zu stehen, es ist längst legitim, sich um sich selbst zu kümmern – und nur um sich selbst. Und am Ende stellen wir verblüfft und enttäuscht fest, wir sind etwas allein, warum nur fühlt sich jetzt auf einmal alle so losgelöst an, so isoliert, so fern von den anderen?

Wir kommen nicht mehr so richtig zusammen, wir finden uns nicht in einer Gruppe wieder und viele werden dadurch anfällig für mancherlei Angebote… ä la Identität und Integration… in immer häufiger zweifelhafte Zugehörigkeiten. Sind wir inzwischen vielleicht endgültig die seltsamsten Menschen der Welt geworden…?

Imre Kertesz, der ungarische Nobelpreisträger und Autor des besonderen Buches „Roman eines Schicksallosen“ spricht überraschend davon, dass ihn ein Klischee erwürgt, das ihm als jüdischem Künstler quasi aufgezwungen wird und er spricht davon, dass er sich nicht mehr in eine der „im Rollenbuch“ vorgesehene Variante einreihen will. Franz Kafka , Paul Celan, Primo Levi sind von ihm verehrte Dichter, aber sie werden seiner Ansicht nach zu sehr identifiziert, indem sie allzu stark und auf eine bestimmte Weise ausschließlich – mit einer jüdischen Identität in Zusammenhang gebracht werden. Er sagt:  „Ich möchte ich sein, auch wenn ich nicht zu wissen vermag, wer ich bin.“

Kertesz wurde 1944 als 14jähriger über Auschwitz nach Buchenwald verschleppt – wovon er auf so außergewöhnliche Weise in seinem berühmten „Roman eines Schicksallosen“ berichtet. Aber er besteht darauf, dass er selbst durch Ausschwitz keine unabänderliche Identität auferlegt bekommen will. (Erstaunlich!)

Vielmehr strebe er als Künstler in seiner Existenz danach, ungebunden zu sein. Er will sich mit niemandem identifizieren, zumindest nicht endgültig. Er will der Wirklichkeit gerecht werden und er versteht sich als jemand, dessen Aufgabe es ist Wirklichkeit darzustellen.

Teil der Wirklichkeit ist, dass wir Rollen entsprechen müssen, dass wir ihnen folgen, dass wir sie einhalten oder eben irgendwann auch nicht mehr einhalten.

Wer weiß, dass er Rollen durchlebt, der legt sie auch leichter wieder ab.

Wenn Kertesz dieses Rollen-Modell vorschlägt, sollten wir ihm folgen.

In der Odyssee im neunten Gesang geraten Odysseus und seine Gefährten in die Höhle des einäugigen Riesen Polyphem. Sie finden dort dringend benötigte Nahrung, werden aber von dem heimgekehrten Kyklopen eingeschlossen. Odysseus‘ Gefährten sind nicht in der Lage, den Felsen, mit dem der Riese die Höhle von innen verschlossen hat, mit ihren Kräften wegzuschieben, die Tötung des menschenverschlingenden Kyklopen ist deshalb nicht zielführend. Sie blenden ihn.

Odysseus gibt sich daraufhin gegenüber Polyphem als „Niemand“ aus und nur so überlebt er die ausweglose Situation in der Höhle des Kyklopen.

„Freunde! „Niemand“ tötet mich mit List und nicht mit Gewalt!“ ruft Polyphem den herbeigerufenen anderen Kyklopen zu und sie halten ihn aufgrund dieser Worte für verwirrt und durch göttliche Fügung geisteskrank geworden und kümmern sich nicht weiter um ihn.

Einzig die List mit dem Namen und ein strategisch eingesetzter Umgang mit dem Gastrecht bringt die Befreiung aus der tödlichen Gefangenschaft. Die Nicht-Identität ist der Schlüssel zur Freiheit.

Der Stuttgarter Georg  Wilhelm Friedrich Hegel bringt den in die schwäbische Sprache eingelassenen Geist zur Entfaltung, indem er nach dem Modell des „so isch no au wieder“ ein radikales „sowohl als auch“ zum Zentrum seiner Philosophie macht und es auf die Wirklichkeit anwendet, die nun mal genau so beschaffen ist. Wie einige andere Sprachen hat auch die zwischen Bodensee und Stuttgart gesprochene Sprache eine hohe und weitgehende Fähigkeit hervorgebracht mit ihrer Hilfe der Wirklichkeit gerecht zu werden. (Erstaunlich!)

Identität wird für Hegel deshalb zu etwas, was nicht allzu fest gefügt ist und niemals unabänderlich und endgültig ist. Identität ist die Identität von Identität und Nicht-Identität, so lautet seine Definition – die leider vergessen wird oder aktiv vergessen gemacht wird – von identitär gesinnten Menschen, die kein Changieren und kein „sowohl als auch“ ertragen können. Das können dann aber wohl keine Schwaben sein, denn es fehlt ihnen offensichtlich die Weisheit der hiesigen Sprache.

Aber es gibt auch unter den hier eingewanderten Menschen einige, die ein Changieren nicht ertragen, aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Ich las von einem Mann, der aus einem arabischen Land eingewandert ist und nicht wirklich angekommen ist. Nennen wir ihn zu Ehren des Dichters Salman Rushdie, einem wunderbaren und unerschrockenen Verteidiger der menschlichen Mannigfaltigkeiten, der 2022 von einem Fanatiker niedergestochen wurde, vorläufig Salman oder besser Anti-Salman …

Ein Grund für sein Nichtankommen sind die Ängste, die er von zuhause mitgebracht hat und die man ihm in Deutschland nicht hat nehmen können. Der Vater hat ihn unterdrückt, die Erziehung war voller Drohungen vor einem strafenden Gott, er muss die Ehre und die Identität der Familie hochhalten und ein richtiger Mann sein.

Von all diesen Aufgaben ist es diesem Anti-Salman nicht gelungen sich freizumachen. Er interessiert sich nicht für das Land, in dem er lebt und nicht für die Leute hier. Er hat die 300 Fragen des Einbürgerungstests erfolgreich auswendig gelernt, sie aber bald wieder vergessen.

Statt der Gemeinsamkeiten schaut er – auch aus Angst um seine Kinder – auf die Unterschiede. Stets betonen beide Seiten, Antisalman und die Mehrheitsgesellschaft die Unterschiede. Beide Seiten – hüben wie drüben – haben es versäumt aufeinander zuzugehen und nun sind sie Bewohner von Parallelgesellschaften.

Die Adern eines möglichen gemeinsamen Gefäßsystems sind verengt oder verstopft. Es droht ein Infarkt. Ein Infarkt, der wie wahrscheinlich viele individuelle aus Ängsten entsteht.

Viele Menschen werden herzlich eingeladen mit uns zu leben, viele jedoch auch alleingelassen. Sie lernen zu wenig Deutsch, sie werden unzureichend in Kenntnis gesetzt darüber, dass dieses Land ein Ergebnis der Aufklärung ist und dass Kinder hier aufgeklärt aufwachsen. Aufklärung ist eine für unser Land grundlegende Tradition, in der Menschen alles in Frage gestellt haben – auch Gott, auch die Religion und auch das Patriarchat. Jeder darf seine eigene Meinung haben, sein eigenes Leben leben und sich frei bewegen.

Das bedeutet aber keinesfalls, dass jemand, zum Beispiel Antisalmans Kinder, ihre Religion aufgeben müssten. Die Gesellschaft, in die er gekommen ist, birgt einen großen Schatz und wir als Gastgeber sollten so gut es geht (nicht zuletzt auch in Hinblick auf unsere schwindenden Arbeitskräfte) dafür sorgen, dass man sich auf Augenhöhe begegnen kann.

Das geht nicht mit Kategorien und Begrifflichkeiten, die Menschen einordnen und zuordnen, benennen und identifizieren. Was in behördlichen Vorgängen manchmal unverzichtbar ist, zerfällt uns hoffentlich zwischen den Fingern, sobald wir uns den Gesichtern, dem Antlitz zuwenden, und sobald wir die eine oder andere Geschichte hören, wie es einer oder einem ergangen ist.

Von Angesicht zu Angesicht gibt es unversehens keine Kategorisierungen, sie verflüchtigen sich im Nu, wenn ich höre, wie jemand aus seinem Leben erzählt und es darin nicht ein Gran Unbedeutendes oder Belangloses gibt. Und mit dem Blick in das Gesicht des Anderen befällt mich ein schier grenzenloses Erstaunen, wie unerschöpflich reich offensichtlich jedes Leben ist, an Schrecklichem, an Seltsamem und an Wunderbarem, das sich in den manchmal so klein und unscheinbar wirkenden Begebnissen verbirgt.

Wie schön und grandios wäre es, wenn wir täglich eingeladen würden, die Geschichten und Erzählungen der Menschen unserer Stadt zu hören zu bekommen. Wie weltläufig würden wir werden und wieviel würden wir verstehen können.

Mein Start-Up, das ich gern begründen würde, bringt an das Revers eines jeden Bewohners der Stadt einen Sticker mit QR-Code und an den Tagen, an denen daneben eine „Grüne Ampel“ auftaucht, darf jeder ihn ablesen und ich höre dann von dem Menschen, den ich anwähle, einige Sätze über sich und sein Leben. Und danach geht es erst richtig los und es wird geplaudert und gefragt und zugehört und erzählt und reflektiert und … verstanden… immer mehr und immer tiefer. Ich denke diese Idee – ob als Geschäftsidee oder als eine anregende Metapher – sollte schleunigst umgesetzt werden… greifen wir also zu den Handys und zu den Gläsern und beginnen zu sehen und gesehen zu werden, zu erzählen und zu hören… sowohl als auch!

(Ahmad Mansour wurde 1976 als arabischer Israeli in Israel/Palästina geboren und lebt seit 2004 in Deutschland. – Wir müssen miteinander reden sonst spielen wir den Rechten in die Hände… )