31. März
Um welche ästhetische Erfahrung geht es beim Theater
Was ist es denn, was es notwendig macht, dass der Spieler und der Betrachter in einem geteilten Präsenzraum sind? Worin besteht das Spezifische der Kunstform Theater? Nicht einfach in der Gleichzeitigkeit der Anwesenheiten, die einen engen Kontakt ermöglicht und damit eine geheimnisvolle Unmittelbarkeit stiftet. Die Theatergeschichte und die Theatertheorie sind reich an pathetischen Beschwörungen dieser ‚mystischen‘ Kommunikation. Besonders die eher reaktionären Theaterleute leisteten der Rekultifizierung des Theater Vorschub, indem sie die gegebene Präsenz für ‚heilig‘ erklärten und dem Theater eine Katharsis wie im Kult unterjubelten, die aus den Spannungen der Realität herauszuspringen verspricht und die reale Verstrickung aus der ästhetischen Erfahrung mitzunehmen eher vermeiden will.
Das meine ich nicht, wenn ich von Unabdingbarkeit der Präsenz in der Theatersituation spreche. Was dort auf den Brettern geschieht ist zwar geheimnisvoll, aber nicht sakrosankt und der Alltagswirklichkeit entrückt, es bedarf dieser Verklärung gar nicht. Vielmehr handelt es sich um eine absolut realistische Kommunikationsform, die von einigen Bedingungen abhängig ist, zu denen eben die Gleichzeitigkeit der Anwesenheit der Körper gehört. Anderes ist aber ebenso wichtig. So muss es Spieler geben, die fähig sind, sich mit den Figuren, denen wir in der Aufführung begegnen, so weit zu verbinden, dass wir mit ihnen einen wirklichen Kontakt aufbauen können. Manchmal sind die Figuren weiter weg von dem Spieler, manchmal sind sie ihm sehr nahe, so dass es scheinen könnte, dass sie ganz mit ihm identisch sind. Wie das der Spieler und der Regisseur herstellen, das ist ein anderes Kapitel und führt für den Moment zu weit. Jedenfalls haben wir damit einen der unverzichtbaren und empfindlichen Kunstmomente des Theaters vor uns. Die ‚Zuschauer‘ können in diesen wie auch immer hervorgezauberten Menschen qua Figur (die heute auch oft der Spieler ‚pur‘ ist, so kann es jedenfalls scheinen) ‚eintauchen‘, d.h. bei richtigem Setting werden wir mit diesem Menschen momentweise oder auch etwas länger mimetisch ‚eins‘. Je nach ästhetischer Strategie kann ich (als Spieler oder als Regisseur) dieses ‚Einswerden‘ längere Zeit aufrechterhalten oder auch ab und zu wirkungsvoll unterbrechen und dann abrupt wieder aufnehmen, wodurch ich so was wie produktive Schocks auslösen kann.
Das alles ist – obwohl es natürlich mit einigem Fug als irgendwie ‚magisch‘ betrachtet werden kann (wieso auch nicht, es gibt verdammt viel im menschlichen Kontakt, was nicht ‚verstanden‘ werden kann) – nichts Heiliges. Es ist jedoch auch nicht profan, denn es bedarf der höchsten Konzentration und einiger Kunstfertigkeit und Kunst der Beteiligten, wozu übrigens auch die Zuschaukunst gehört, damit Theater passieren kann. Denn wenn ein solcherart konzentrierter Mensch sich seinem Spiel und dem Spiel mit seinen Partnern auf der Szene (und auch mit denen vor der Rampe oder um ihn herum) hingibt, entsteht die Möglichkeit, dass wir als Zusehende diesem Menschen emotional intensiv folgen und mit seinen inneren Vorgängen gleichsam verschmelzen. Dieser Vorgang einer spezifischen Mimesis spielt sich nun m.E. auf einer körperlichen Ebene ab und von dort aus erstreckt sich diese besondere Kommunikation zwischen den beteiligten Menschen in ihre innere psychische Welt und damit auch in das Unbewusste. Das bedeutet, dass ich fast alles Körperliche des Spielers direkt wahrnehmen muss, sein Atmen, sein Sprechen im Atem, die feinsten Regungen seines Gesichts, das gesamte Zusammenspiel von Gesten, Haltungen und Mimik, kurz: den Menschen, wie er/sie das erlebt, was gerade mit ihm/ihr geschieht. Das tiefe und reale Eintauchen in solch ein ‚ernstes‘ Spiel, in dem Fiktion und Realität, Symbol und Reales zusammenfallen, ist nur möglich im Theater.
Darin besteht die ästhetische Erfahrung, die das Theater – und nicht die Videoaufzeichnung – ermöglicht. Unsere Gegenwart ist geprägt von Kommunikationskanälen, die über Information ‚funktionieren‘ und so etwas wie Ausdruck (von Gefühlen, aber auch von Gedanken, von innerer Welt) nicht mehr ‚auf dem Schirm‘ haben. Und immer mehr Menschen beginnen das eine mit dem anderen zu verwechseln, z.B. wird ein Bild in seinem Ausdruck genommen, obwohl es nur ein Klischee an eine Information anheftet, oder der Ausdruck eines echten Menschen, der unmittelbar vor uns sein Gefühl zeigt, mein Gegenüber im Alltag, wie auch der Schauspieler, wird als rationales pattern ‚gelesen‘, als bloßes Zeichen, das etwas ‚bezeichnet‘, obwohl es genau dies nicht ist. In unsere zeitgenössische Kultur- und Kunstkritik ist diese Verwechslung schon weit verbreitet, Theater wird immer öfter über seine Signifikationen, seine Bedeutungen ‚entziffert‘ (in seiner Eigenschaft als Medium der Zeichen, was es zugleich ja auch ist), als ein Raum des Realen mit unseren emotionalen und körperlichen Un(auf)lösbarkeiten. Ein ungesundes misreading.
Theatertagebuch P. Staatsmann ensemble cc (2) 31.3.20
P.S. Gestern schickte mir ein Freund eine nachdenkliche Anmerkung zur Frage der Theatervideos, das ich gern hier zitieren will: „(…) Durch inflationäres Senden von Videoaufzeichnungen, von Konzerten und Opern (…) oder zum Beispiel auch durch die neuen HOMESTORIES (bspw. Schauspielhaus Bochum) wird die ubiquitäre Depression ins Übermaß gesteigert. „Das Schöne bedeutet das mögliche Ende der Schrecken.“ Aber vor dem Bildschirm wird die ästhetische Erfahrung zu einem austauschbaren Kulturgut rein konsumistischer Natur. (…)“